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Flucht – eine Herausforderung für die Pflegekinderhilfe in einer Einwanderungsgesellschaft

Immer mehr Menschen sind derzeit gezwungen ihr Heimatland zu verlassen, um vor Gewalt und Diskriminierung zu fliehen und ihr Leben wieder selbst gestalten zu können. Dabei sind Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, die in Deutschland Zuflucht suchen, zunächst verstärkt auf Hilfe von außen angewiesen. Die Frage danach, inwiefern die Pflegekinderhilfe als Teil der Kinder-und Jugendhilfe dazu einen Beitrag leisten kann, gab den Anlass zu dieser Tagung, zu der sich am 1. Juni 2016 Experten und Expertinnen sowie beteiligte Fachkräfte aus ganz Deutschland in Hannover zusammengefunden haben.

Josef Koch (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfe, IGfH) führte wie gewohnt souverän und mit einer Portion Humor durch den Tag.

Als erster Referent nahm Heinz Müller (Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH, ism) das Tagungsthema in Augenschein: Migration und Flucht sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, so seine erste Aussage. Während auf der politischen Ebene Finanz-, Ausbau- und Handlungsdruck die Debatte steuern (z.B. beim Ausbau der Kitas), diskutiert die Fachebene Inhalte und Konzepte. Statistische Daten zeigen auf, dass die Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen unter Einwandernden ähnlich hoch ist, wie unter hier beheimateten Personen. Vor diesem Hintergrund sei festzuhalten, dass nicht Migration und Flucht zu problematisieren sind, sondern die ungelösten Gestaltungsaufgaben, die sich aus der Zuwanderung einer sehr heterogenen Gruppe ergeben. Dabei verstellen verschiedene, aber notwendige Diskussionen (z.B. über die Altersfeststellung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer) schnell den Blick darauf, was das Kind/ der Jugendliche wirklich braucht. So haben sich die Angebote der Hilfen zur Erziehung in familiären Settings faktisch verändert, seit verstärkt unbegleitete minderjährige Ausländer in Deutschland angekommen sind: Es ist eine zusätzliche Pflegeform in den Fokus der Jugendhilfe gerückt, die Gastfamilie. Mit diesem neu entworfenen Familienmodell, das sich vorrangig an unbegleitet einreisende Jugendliche richtet, verschiebt sich die bisherige Altersstruktur in der Pflegekinderhilfe – von einem Altersschwerpunkt der unter Sechsjährigen hin zu sechzehnjährigen Heranwachsenden. Die unterschiedlichen Bilder darüber, welche Zuschreibung und Bedeutung Familie hat, löst bei Fachkräften wie Adressaten und Adressatinnen der Hilfe zunächst ein Gefühl von Fremdheit aus. Für einen professionellen Umgang mit Migrationskontexten bedarf es weniger neuer Konzepte, so Müller, vielmehr müssen die bestehenden hinterfragt und ausdifferenziert werden. Es gilt, ein modernes Angebot in den Hilfen zur Erziehung bereitzustellen.

Alexandra Szylowicki aus dem Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. präsentierte anschließend mit ihrem Vortrag „Guter Wille allein genügt nicht - Anforderungen an die Praxis in der Pflegekinderhilfe“ eine erste bundesweite Bestandsaufnahme für diesen Bereich. In dem Rahmen werden viele veränderte Herausforderungen für die Pflegekinderdienste und weitere Beteiligte deutlich. So fehlt bislang ein einheitliches Verständnis darüber, welche Erwartungen an die Pflegefamilien zu stellen sind und wie die besondere bedarfsangemessene Begleitung der ankommenden Kinder und Jugendlichen auszusehen hat. Gleichzeitig hat sich eine Vielfalt an Konzepten entwickelt, die in der Praxis schon täglich Anwendung findet. Themen, wie z.B. Integration, Partizipation, aber auch Belastungen, etwa durch unsichere Bleibeperspektiven, erhalten eine andere Relevanz und Bedeutung als in vergleichbaren Pflegeformen ohne Migrationsbeteiligung oder Fluchterfahrung. Die Aufgaben und Anforderungen an die beteiligten Fachdienste sind hoch und vielfältig. Dies gilt ebenso für Pflegefamilien, die Hilfe für ihre - die Gesellschaft unterstützende - Aufgabe erwarten dürfen. So seien gute Vorbereitungen und Begleitung notwendig, um die Unsicherheiten zu reduzieren, die bei allen an einer Unterbringung Beteiligten vorhanden sind. Gelingt es belastbare und motivierte Personen zu finden und sie professionell auf diese Aufgabe vorzubereiten und kompetent zu begleiten, schaffe man eine gute Basis dafür, dass die Jugendlichen in diesen verlässlichen familiären Rahmen schrittweise ein neues Gefühl der Sicherheit aufbauen können, so Syzlowicki. Die Referentin sieht das Konzept der Gastfamilien als eine Chance für die unbegleiteten Jugendlichen. Durch diese umfassende Begleitung kann die Integration erleichtert, Zugänge und Bildungschancen verbessert werden, so dass Vertrauen in eine Zukunftsperspektive für unbegleitete minderjährige Ausländer gestärkt und entwickelt werden kann.

Abschließend wählte Prof. Dr. Klaus Wolf von der Universität Siegen für die Tagung das Thema „Entspezialisierung der Betreuung im Exil“. Er erweiterte den Blickwinkel und beschrieb zuvor besprochene Herausforderungen als positive Lernfelder für die Pflegekinderhilfe, die aus dem Umgang mit jungen Flüchtlingen erwachsen können. Zu häufig finden sich kollektive Aussagen über „die Gruppe“ der Flüchtlinge im öffentlichen Diskurs wieder. Doch erst die Betrachtung des Einzelfalls als zentrales Moment im Umgang mit dem Pflegekind ermöglicht einen individuelleren Zugang. Zugleich werden neue Perspektiven auf die Vollzeitpflege möglich, die auf Grund veränderter Voraussetzungen im Kontext der verstärkten Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer erfolgen. Dabei handelt es sich meist um Jugendliche, deren Alter, so Wolf, in der Vollzeitpflege lange Zeit als unerwünscht empfunden wurde. Bei Eintritt des Pflegeverhältnisses bringen sie außerdem keine große Akte mit, wie sie von vielen Pflegeeltern früher gerne vorher gelesen war. So gilt es die Biographien der Kinder und Jugendlichen prozesshaft zu erschließen. Vor diesem Hintergrund wird ebenso auf der Ebene der Pflegeeltern als Gasteltern eine neue Vielfalt sichtbar, werden sie doch mit anderen Kriterien bemessen und aus den unterschiedlichsten Milieus heraus aktiv. Der Vortrag schließt letztlich mit den Lernchancen und Repertoirebereicherungen, die sich ebenfalls daraus für die Fachkräfte in der Pflegekinderhilfe ergeben. Diese reichen von der Forderung nach Flexibilität finanzieller Leistungen bis hin zu der Intensivierung des Betreuungsbedarfs für Pflegeeltern.

Den Abschluss bildete eine aus Experten und Expertinnen bestehende Podiumsdiskussion, die aus den Vorträgen des Tages Denkanstöße und Impulse zu formulieren wusste.

Mit der Fachtagung wurde ein erster Weg aufgezeigt, die veränderten Anforderungen an die Pflegekinderhilfe als Herausforderungen, aber auch als Chancen mit einer positiven Lernkultur wahrzunehmen und damit die Hilfeform zu stärken und weiterzuentwickeln. Sie ermöglichte überdies eine Reflexion der tatsächlich vorhandenen und sich entwickelnden Landschaft, deren Wahrnehmung wichtig ist, um plötzliche Bedarfsanpassungen verfolgen und den individuellen Adressaten und Adressatinnen gerecht werden zu können.



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